Fast ein Jahr, nachdem bekannt geworden ist, dass die europäischen Strafverfolgungsbehörden EncroChat gehackt haben und über einen Zeitraum von 2 ½ Monaten alle Nachrichten und Notizen der Nutzer mitlesen, speichern und auswerten konnten, lohnt es sich, einen Blick auf die laufenden Verfahren in Deutschland und Europa zu werfen.
Frankreich
Beginnen möchte ich in Frankreich, wo die Ermittlungen angeblich begonnen haben. Jedenfalls berufen sich diejenigen Ermittler, die die verdeckte Abfangeinrichtung auf die über 32.000 EncroChat-Handys aufgespielt und damit den Abfluss der Daten ermöglicht haben, auf Beschlüsse eines Untersuchungsrichters in Lille, Frankreich. Das wird wiederum damit begründet, dass die Server von EncroChat bei der Firma OVH in Roubaix gehostet wurden und Roubaix zum Einzugsgebiet von Lille gehört.
Schon während des laufenden Hacks war den französischen Behörden bewusst, dass von den über 32.000 Telefonen nur ca. 470 Telefone überhaupt in Frankreich genutzt werden und davon wiederum nur knapp 315 Handys überhaupt in Verbindung mit Straftaten stehen könnten. Schon diese Zahl zeigt, dass EncroChat-Handys in Frankreich im europäischen Vergleich kaum verbreitet waren (zum Vergleich Encro-Handys in anderen europäischen Ländern: UK über 9.000, Niederlande knapp 7000, Deutschland ca. 3300 u.a.).
In den wenigen Fällen, in denen es bislang aufgrund des Hacks zu Strafverfahren in Frankreich kam, wurden ganz überwiegend von den Gerichten so gute Deal-Angebote gemacht, dass die meisten Angeklagten diese angenommen haben und eine rechtliche Überprüfung der Beschlüsse bislang nicht erfolgte.
Allerdings gibt es inzwischen einzelne Verfahren, in denen französische Rechtsanwälte die Rechtswidrigkeit der Ausgangsbeschlüsse nach französischem Recht überprüfen lassen (mehr hier). Dabei haben die französischen Anwälte sehr gute Argumente, warum die Ausgangsbeschlüsse gegen französisches und europäisches Recht verstoßen. Zum einen leiden die Beschlüsse zum Teil an gravierenden Formfehlern (z.B. fehlende zwingende zeitliche Beschränkungen), offensichtlich unzulässigen Methoden bei der Durchführung (bspw. Transaktionssperre mit den Service-Providern) sowie der fehlenden Zuständigkeit der französischen Richter für Maßnahmen in anderen Ländern (nämlich auf Telefonen u.a. in Deutschland).
Bislang sind in Frankreich noch keine Urteile zur Verwertbarkeit der Daten bzw. zur Rechtmäßigkeit der Ausgangsbeschlüsse ergangen.
Niederlande
Als nächstes komme ich zu den Niederlanden. Die niederländischen Behörden haben mit den französischen Behörden ein sogenanntes JIT (Joint Investigation Team) gebildet und haben die abgefangenen Nachrichten ab 1. April 2020 „live“ mitgelesen. Inzwischen gibt es auch vermehrt Hinweise, dass holländischen Institutionen bei der Entwicklung der Abfangeinrichtung und der technischen Durchführung des Hacks involviert waren.
So kam in mehreren Verfahren in den Niederlanden, die auf den EncroChat-Daten beruhen, heraus, dass die holländische Staatsanwaltschaft den niederländischen Gerichten unvollständige Informationen über die Realisierung des Hacks auf den EncroChat-Servern zur Verfügung gestellt hat (mehr hier). Die Staatsanwaltschaft hat sich bislang immer darauf berufen, dass sie letztes Jahr plötzlich von Frankreich über den Hack informiert wurde. So haben die Niederlande im Januar 2020 von Frankreich ein Signal erhalten, dass eine Untersuchung gegen das Unternehmen EncroChat läuft und die Franzosen Encro hacken werden.
Aus diesem Grund wurde die niederländische Untersuchung 26Lemont über die Firma EncroChat eingeleitet. Aufgrund dieser Ermittlungen erhielt die Polizei dann Millionen von Chats von Nutzern als "Beifänge", auf deren Grundlage derzeit zahlreiche Verdächtige vor Gericht gestellt werden. Allerdings sind inzwischen in Großbritannien Dokumente aufgetaucht aus denen hervorgeht, dass die Zusammenarbeit zwischen den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien bereits im Jahr 2019 stattfand. So gab es ein gemeinsames Ermittlerteam bestehend aus Technikern und Analysten von NCA (UK), C3N (FR) und THTC (NL). Erste Ermittlungen gehen sogar auf das Jahr 2017 zurück.
Außerdem konnte in den holländischen Verfahren herausgearbeitet werden, dass es den Ermittlern -entgegen ihrem Vorbringen- bei den Abfangmaßnahmen nie um die Betreiber, sondern ausschließlich um die Nutzer von EncroChat ging. Die Hintermänner von EncroChat sind bis heute auf freiem Fuß.
Auch in den Niederlanden gibt es bislang noch keine relevanten höchstrichterlichen Gerichtsentscheidungen zu der Frage der gerichtlichen Verwertbarkeit der EncroChat-Daten. Bemerkenswert insbesondere aus deutscher Sicht ist aber die holländische -sehr rechtsstaatliche- Interpretation von Untersuchungshaft: So wurden in vielen sehr großen Verfahren (1,5 Tonnen Heroin in Breda, Kokainwaschanlage in Amsterdam, 4 Tonnen Kokain in Rotterdam) die Verdächtigen aus der Untersuchungshaft entlassen, weil mit Urteilen frühestens Mitte 2022 zu rechnen ist und die Anwendung der Untersuchungshaft bis dahin unverhältnismäßig sei.
An dieser Stelle nochmal der eigentlich selbstverständliche Hinweis: Untersuchungshaft dient lediglich der Sicherung des Verfahrens. Bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens sind die Beschuldigten/Angeklagten unschuldig!
Großbritannien
In Großbritannien sitzen zurzeit über 1500 Personen auf Grundlage der EncroChat-Daten in Untersuchungshaft. Dabei stellt das britische Strafprozessrecht und die damit einhergehenden Möglichkeiten der Verteidigung umfassende Informationen von den Strafverfolgungsbehörden zu den Abläufen vor und während der strafprozessualen Maßnahmen heraus zu verlangen einen Glücksfall für alle anderen an der Aufklärung Interessierten dar. So gelangen interne Vermerke, Memos, rechtliche Einschätzungen und Protokolle von Treffen der europäischen Ermittler an die Öffentlichkeit. Teilweise sind die öffentlichen Anhörungen und Vernehmungen der Ermittler sogar live im Internet verfolgbar.
Insbesondere zu den vorbereitenden Meetings bei Europol und Eurojust sind die Aussagen der britischen Ermittler sehr aufschlussreich. So berichtete beispielsweise die NCA-Ermittlerin Emma Sweeting in ihrer zeugenschaftlichen Vernehmung vor dem Gericht in Manchester am 13. Mai 2021, dass sie bereits seit September 2018 an Meetings mit französischen Ermittlern zu den Themen EncroChat und Sky ECC teilgenommen hat. Weiter führt sie aus, dass die französischen und holländischen technischen Ermittler aus Geheimhaltungsgründen keine genauen Angaben zu der technischen Vorgehensweise bei dem Hack gemacht haben, allerdings sei ihnen mitgeteilt wurden, dass die Daten von den jeweiligen Endgeräten stammen. Dies bedeutet, dass auf jedem EncroChat-Handy eine Abfangeinrichtung aufgespielt worden ist.
Ein weiteres interessantes Detail aus den britischen Prozessen ist, dass bereits am 2. Mai 2020 (ergänzt am 28. Mai 2020) ein Rechtsgutachten vorlag, dass von der britischen Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben worden ist. Das Gutachten von Lord Anderson of Ipswich KBE QC kommt zu dem Ergebnis, dass die britischen Beschlüsse sowie Europäische Ermittlungsanordnung vom 11. März 2020 ohne konkreten Tatverdacht oder Verdächtige erheblichen rechtlichen Bedenken unterliegen und die britischen Gerichte diese daher als rechtswidrig erachten können.
Aus den britischen Gerichtsunterlagen ergibt sich außerdem ein Vernehmungsprotokoll des französischen Ermittlungsführers Jeremy Decou vom 25. September 2020. In dieser Vernehmung vor britischen Staatsanwälten erklärt Decou, wie der Datentransfer stattgefunden hat. So haben die Franzosen die EncroChat-Daten an Europol gesendet und Europol hat die dann an die Länder weitergeleitet, die danach gefragt haben. Zu den technischen Methoden, die die Ermittler angewendet haben, will er mit Verweis auf das Militärgeheimnis keine Angaben machen. Er führt aus, dass die Abfangeinrichtung am 1. April 2020 auf allen EncroChat-Handys aufgespielt worden ist und sämtliche Daten, die sich zu diesem Zeitpunkt noch auf den Telefonen befunden haben, an einen Polizei-Server gesendet hat. Ab dem 1. April 2020 wurden dann sämtliche neu eingehenden Daten auf den Telefonen zum Polizei-Server gesendet.
Schweden
Auch in Schweden gibt es eine Vielzahl von Gerichtsverfahren, die ihren Ursprung in den EncroChat-Daten haben. Für Aufsehen hat das Urteil des Berufungsgerichts in Svea vom 7. Mai 2021 gesorgt, dass den dortigen Angeklagten freigesprochen hat (mehr hier). Das Berufungsgericht hat entschieden, dass die Unklarheiten hinsichtlich des Zugangs zum EncroChat-Material die Fähigkeit des Angeklagten beeinträchtigt haben, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen. Es hat sich herausgestellt, dass die Verteidigung um Klärung von Informationen in diesen Teilen gebeten hat, diese jedoch nicht erhalten hat. Nach Ansicht des Gerichtes besteht insoweit Unklarheit darüber, wie die EncroChat-Daten erlangt wurden und ob das Verfahren in jeder Hinsicht in Übereinstimmung mit schwedischem oder ausländischem Recht war. Die Möglichkeit des Angeklagten, auf die Beweise zu antworten, war daher unzulässig beschränkt. Da auch dem Berufungsgericht keine weiteren Informationen vorlagen, konnte auch das Gericht den Wert der Beweise nicht ausreichend bewerten. Die logische Konsequenz war der Freispruch.
Deutschland
Auch in Deutschland haben inzwischen landauf landab die Prozesse begonnen, in denen die EncroChat-Daten eine Rolle spielen. Allseits bekannt dürften inzwischen die Haftentscheidungen der Obergerichte (OLG Bremen, OLG Hamburg, OLG Rostock, OLG Schleswig) sein, die -wenn auch mit unterschiedlicher Qualität und Entscheidungstiefe-aufgrund der bisherigen Aktenlage zu dem Ergebnis kommen, dass in den Hauptsacheverfahren wohl keine Beweisverwertungsverbote hinsichtlich der EncroChat-Daten vorliegen.
Besonders hervorzuheben ist aus dem nunmehr von Staatsanwaltschaften und Ermittlungsrichtern von Flensburg bis Memmingen zitierten OLG Hamburg Beschluss die folgende Passage, die das rechtsstaatliche Blut gefrieren lässt:
„Hiervon unabhängig würden die Voraussetzungen für ein Verwertungsverbot auch dann nicht vorliegen, wenn das Vorgehen der französischen Behörden teilweise als nicht mehr hinnehmbar rechtsstaatwidrig begriffen werden würde.“
Dabei sollte aber allen Beteiligten bewusst sein, dass es sich bei den OLG Beschlüssen lediglich um vorläufige Einschätzungen auf Grundlage der bislang -aus meiner Sicht unvollständigen- vorliegenden Akteninhalte handelt. Entscheidungen von Landgerichten bei denen es auf die Entscheidung, ob die EncroChat-Daten verwertbar sind oder nicht, im Ergebnis ankam, sind bislang nicht bekannt.
So ist es auch in deutschen Gerichtssälen bislang gelebte Praxis, dass den Angeklagten vor dem Hintergrund der Vorwürfe so verlockende Angebote gemacht werden, dass diese die annehmen und im Sinne der Anklage gestehen. Dann müssen die Gerichte die Frage der Verwertbarkeit der EncroChat-Daten nicht mehr entscheiden. Oder aber es gibt weitere Beweise neben den EncroChat-Daten, wie z.B. Geständnisse von Mitangeklagten, weitere Telekommunikationsüberwachung, BtM-Funde etc., die für Verurteilungen ausreichend sind.
Sowohl vor dem Landgericht Magdeburg als auch vor dem Landgericht Darmstadt wurde die Frage des Zustandekommens der Datenübermittlung von Europol sowie die Einbindung der deutschen Behörden in die Datenerhebung in der Beweisaufnahme thematisiert. So wurden in beiden Verfahren die technischen und investigativen Ermittlungsführer des BKA als Zeugen vernommen. Diese Vernehmungen haben Erstaunliches zu Tage befördert und die Vermutungen vieler Strafverteidiger bestätigt.
So haben die Ermittler des BKA bereits im September 2019 erfahren, dass die französischen und niederländischen Behörden an einem Hack von EncroChat arbeiten. Dann habe es am 9. März 2020, also mehr als drei Wochen bevor die offiziellen Maßnahmen auf den jeweiligen Telefonen begonnen haben, ein EuroJust-Treffen gegeben. An diesem Treffen nahmen auch Vertreter anderer Staaten teil. Aus Deutschland waren sowohl Vertreter des BKA als auch die zuständige Dezernentin der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main anwesend. Dort hätten französische Ermittler berichtet, dass man an alle Chatprotokolle von EncroChat-Handys gekommen sei, darunter auch viele Chats aus anderen Staaten. Damals sei aber eine Weitergabe aus Geheimhaltungsgründen noch nicht möglich gewesen.
Am 1. April 2020 habe man dann die Information bekommen, dass man bald mit einer Weiterleitung der Daten aus Deutschland rechnen könne. Ab 3. April 2020 sei dies dann tatsächlich auch möglich gewesen, d.h. das BKA konnte täglich Datenpakete von einem Europol-Server runterladen, was sie auch getan haben. Die französischen und holländischen Ermittler hätten dann auch von Deutschland gefordert, ein eigenes Ermittlungsverfahren zu führen. Dies sei Voraussetzung für den Datentransfer gewesen. Eine weitere Vorgabe wäre gewesen, dass die Daten nicht „gerichtsverwertbar“ zu diesem Zeitpunkt seien und nur Auswertezwecken dienen durften. Die BKA-Ermittler räumten auch ein, dass sie vor Erhalt der Chatprotokolle keinen konkreten Tatverdacht bezüglich einer Person oder einer Straftat hatten.
Die Generalstaatsanwaltschaft weist bislang sämtliche Akteneinsichtsgesuche -sowohl von Verteidigern als auch von Gerichten- hinsichtlich des Zustandekommens der Übergabe der Daten sowie der Einleitung des allgemeinen Ermittlungsverfahrens mit dem Hinweis der bislang nicht abgeschlossenen Ermittlungen zurück.
Vor dem Hintergrund der doch umfangreichen und langjährigen gemeinsamen Ermittlungen der anderen europäischen Staaten in Bezug auf EncroChat wäre es doch arg verwunderlich, wenn die deutschen Behörden davon erst kurz vorher erfahren hätten. Jedenfalls kann die Legende des „spontanen“ polizeilichen Nachrichtenaustauschs nach den Aussagen der BKA-Ermittler als Rechtsgrundlage (viele Grüße an die norddeutschen Obergerichte an dieser Stelle!) nicht mehr aufrecht gehalten werden.
Fazit
Auch wenn die europäischen Strafverfolgungsbehörden durch die jahrelange gemeinsame Ermittlungsarbeit einen Wissens- und Informationsvorsprung haben, holen die europäischen Strafverteidiger jetzt durch enge Netzwerke und Informationsaustausch schnell auf. Die Nervosität der Strafverfolgungsbehörden ist spürbar. So hat die niederländische Staatsanwaltschaft bereits den britischen Behörden vorgeworfen, zu viele Informationen preiszugeben.
Auffällig ist hierbei, dass die federführenden Staatsanwaltschaften in den jeweiligen Ländern die Weitergabe der Informationen offensichtlich angepasst an die nationalen prozessualen Voraussetzungen zur Verwertbarkeit von mitgeschnittenen Chats filtern und selektieren.
Dem europäischen Rechtsstaatsgedanken ist das nicht nur unwürdig, sondern verstößt diese Praxis des Zurückhaltens von Aktenbestandteilen auch evident gegen den Fair-Trial-Grundsatz aus Artikel 6 EMRK.
Es bleibt zu hoffen, dass mehr Strafkammern die rechtsstaatliche Neugier packt und die richtigen Fragen solange gestellt werden, bis sie beantwortet werden. Sollten diese Antworten nicht gegeben werden, hat das Berufungsgericht in Svea die einzig richtige Konsequenz gezogen- FREISPRUCH.