Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK im Zusammenhang mit Beweisen aus verschlüsselter Kommunikation fest!

In einer Grundsatzentscheidung hat die Große Kammer des EGMR deutlich gemacht, dass es den Grundsätzen eines fairen Verfahrens entspricht, dass einem Angeklagten uneingeschränkter Zugang zu den vermeintlich belastenden Beweisen (hier: Rohdaten der Chatdateien sowie Metadaten) sowie die Möglichkeit eingeräumt werden muss, die Rohdaten einer unabhängigen Prüfung zur Überprüfung ihres Inhalts, der Zuverlässigkeit und ihrer Integrität zu unterziehen. Sollten von diesen Grundsätzen Ausnahmen gemacht werden, sind diese umfangreich zu begründen und müssen im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung anderweitig kompensiert werden.

 

➡ Diese Entscheidung wird unmittelbare Auswirkungen auf die EncroChat, SkyECC und ANOM Verfahren haben, da in allen drei Verfahrenskomplexen die Frage des Zugangs zu den Rohdaten, die damit verbundene unabhängige Prüfung der Integrität und Authentizität sowie die offensichtlichen inhaltlichen Diskrepanzen verschiedener Nachlieferungen von den Gerichten (noch) oftmals ignoriert wird. 

 

Darüber hinaus hat der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung (Akgün v. Türkiye 19699/18) bestätigt, dass der bloße Gebrauch von verschlüsselter Kommunikation weder eine Straftat noch einen ausreichenden Verdacht einer Straftat begründet!

 

➡ Auch diese Grundsätze spielen in den großen Kryptoverfahren eine Rolle, da die Überwachung von Hunderttausenden Nutzern weltweit lediglich auf der Nutzung der Systeme an sich und nicht auf einem konkreten Verdacht gegen den einzelnen Nutzer beruhte.

 

Die aus meiner Sicht relevanten Passagen der sehr umfangreichen und ausführlichen Begründung des Gerichtshof finden sich meiner Ansicht nach in den folgenden -von mir übersetzten- Randziffern:

 

  • Rz. 344: Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass elektronische Beweise, die die Nutzung eines verschlüsselten Nachrichtensystems durch eine Person belegen, das angeblich von einer terroristischen Vereinigung für die Zwecke ihrer internen Kommunikation entwickelt wurde, bei der Bekämpfung des Terrorismus oder anderer Formen der organisierten Kriminalität grundsätzlich sehr wichtig sein können (vgl. für eine ähnliche Feststellung Akgün, a. a. O., § 167). Während jedoch die Bekämpfung des Terrorismus den Rückgriff auf solche Beweismittel erforderlich machen kann, gilt das Recht auf ein faires Verfahren, aus dem das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Rechtspflege abzuleiten ist, für alle Arten von Straftaten, von den einfachsten bis zu den komplexesten. Das Recht auf eine faire Rechtspflege hat in einer demokratischen Gesellschaft einen so hohen Stellenwert, dass es nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit geopfert werden darf (siehe Ramanauskas gegen Litauen [GC], Nr. 74420/01, § 53, EGMR 2008), und die erlangten Beweise, ob elektronisch oder nicht, dürfen von den nationalen Gerichten nicht in einer Weise verwendet werden, die die Grundprinzipien eines fairen Verfahrens untergräbt.
  • Rz. 306 f.: Ein grundlegender Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren besteht darin, dass Strafverfahren, einschließlich der verfahrensrechtlichen Elemente eines solchen Verfahrens, kontradiktorisch sein sollten und dass zwischen Anklage und Verteidigung Waffengleichheit herrschen sollte. Das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren verlangt in Strafsachen auch, dass die Strafverfolgungsbehörden der Verteidigung alle wesentlichen Beweise offenlegen, die in ihrem Besitz für oder gegen den Angeklagten sind. Der Begriff "wesentliches Beweismaterial" kann nicht eng in dem Sinne ausgelegt werden, dass er sich nicht auf Beweise beschränken lässt, die von der Staatsanwaltschaft als relevant angesehen werden. Er umfasst vielmehr alles im Besitz der Behörden befindliche Material mit potenzieller Relevanz, auch wenn es überhaupt nicht oder nicht als relevant angesehen wird.
  • Rz. 303, 327: Auch wenn es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, grundsätzlich zu entscheiden, ob bestimmte Arten von Beweisen - z. B. Beweise, die nach innerstaatlichem Recht unrechtmäßig erlangt wurden - zulässig sind oder ob der Antragsteller schuldig war oder nicht. Die Frage, die beantwortet werden muss, ist, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art und Weise, wie die Beweise erhoben wurden, fair war. Aus der Perspektive der Verteidigungsrechte können sich Fragen nach Artikel 6 in Bezug darauf ergeben, ob die für oder gegen den Angeklagten vorgelegten Beweise in einer Weise vorgelegt wurden, die ein faires Verfahren gewährleistet (siehe Erkapić/Kroatien, Nr. 51198/08, § 73, 25. April 2013), da ein faires Verfahren ein kontradiktorisches Verfahren und Waffengleichheit voraussetzt; daher können mögliche Mängel im Verfahren der Beweisführung nach Artikel 6 § 1 geprüft werden (siehe Mirilashvili/Russland, Nr. 6293/04, § 157, 11. Dezember 2008). Darüber hinaus muss die Qualität der Beweismittel berücksichtigt werden, einschließlich der Frage, ob die Umstände, unter denen sie erlangt wurden, Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit oder Richtigkeit aufkommen lassen.
  • Rz. 328: Auch der Umstand, dass die inländischen Gerichte die ByLock- Daten des Klägers mit einem anderen, von einem Sachverständigen überprüften Datensatz für übereinstimmend hielten, beseitigte nicht notwendigerweise die Verfahrensrechte des Klägers in Bezug auf diese früheren Daten. (...) Im Übrigen kann nicht ausgeschlossen werden, dass das ByLock-Material möglicherweise Elemente enthielt, die es dem Kläger ermöglicht hätten, sich selbst zu entlasten oder die Zulässigkeit, Zuverlässigkeit, Vollständigkeit oder Beweiskraft dieses Materials in Frage zu stellen.

 

Mehr dazu hier

 

English press release of the court here

 

English summary with a statement from our partner Christian Lödden here

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