Im Juni 2025 haben rund 100 niederländische Strafverteidiger einen eindringlichen "Brandbrief" veröffentlicht, der die massiven Bedenken hinsichtlich fairer Gerichtsverfahren in sogenannten PGP-Fällen (insbesondere EncroChat und SkyECC) zum Ausdruck bringt.
Die Kernaussagen sind alarmierend und spiegeln eine Realität wider, die wir in Deutschland leider nur zu gut kennen:
- Fehlende Prüfung von Beweismitteln: In diesen Fällen wird Verteidigern oft die Möglichkeit verwehrt, die Rechtmäßigkeit und Zuverlässigkeit der gewonnenen Daten – die oft das einzige oder entscheidende Beweismittel darstellen – überprüfen zu lassen. Stattdessen wird von ihrer Rechtmäßigkeit ausgegangen, da die Daten ohne eigenes Zutun im Ausland gewonnen wurden.
- Das "Vertrauensprinzip": Anträge und Einwände bezüglich der Rechtmäßigkeit und Zuverlässigkeit werden regelmäßig mit Verweis auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens abgewiesen. Obwohl der Oberste Gerichtshof der Niederlande bereits 2023 entschieden hat, dass die Art und der Umfang der Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden zu einer Mitverantwortung des eigenen Staates führen kann, werden konkrete Anfragen zur Klärung dieser Zusammenarbeit abgelehnt. Dies führt zu einem unzulässigen Zirkelschluss, bei der die Prüfung verweigert wird, weil das Vertrauensprinzip angeblich gilt.
- Unzulässige Übernahme von Urteilen: Richter übernehmen zunehmend nicht nur rechtliche Erwägungen, sondern sogar ganze "Feststellungen von Tatsachen" aus Urteilen in anderen Fällen, ohne die genauen Argumente oder Einwände aus diesen Fällen zu kennen. Dies untergräbt das Recht auf ein individuelles und faires Verfahren.
Diese Entwicklungen berauben den einzelnen Angeklagten der Möglichkeit, Beweismittel zu überprüfen und sich effektiv zu verteidigen. Das Recht auf ein faires Verfahren ist ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates und muss, unabhängig von der Schwere der Vorwürfe, gewährleistet sein. Der EGMR betont, dass ein Strafgericht eine vollständige, unabhängige und umfassende Prüfung und Bewertung der Zulässigkeit und Zuverlässigkeit von Beweismitteln durchführen muss, unabhängig davon, wie dieselben Beweismittel in anderen Verfahren bewertet wurden.
Ich schließe mich meinen niederländischen Kollegen vollumfänglich an. Diese Missstände sind nicht auf die Niederlande beschränkt; auch in Deutschland sehen wir ähnliche Tendenzen in diesen Verfahren, ganz aktuell in einem Verfahren vor dem Schwurgericht in Berlin mit meiner Kollegin Gloria Holborn, LL.M.
Es ist höchste Zeit, dass die Justiz ihrer Verantwortung gerecht wird und jedem Angeklagten ein faires Verfahren ermöglicht. Es mag Mehraufwand bedeuten, aber genau darin beweist sich unser Rechtsstaat.
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